Vor eineinhalb Jahren machte ich während eines Kurses eine spannende Erfahrung. Es ging um das Thema Nähe. Verbundenheit zu mir und zu anderen. Der Begriff Nähe war damals für mich verknüpft mit körperlicher Nähe und Intimität. War beides nicht gegeben, fühlte es sich für mich an wie Ablehnung. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, dass Grenzen notwendig sind, um Nähe erleben zu können.
Eigentlich liegt es auf der Hand, oder besser gesagt auf der Haut. Unser größtes Organ und gleichzeitig unsere Grenze zur Umwelt und den Mitmenschen. Entziehe ich diese Grenze, gibt es auch keine Berührung, biete ich diese Grenze an, so werde ich berührbar. Es ist letztendlich die Fähigkeit sich zu zeigen, mit allen Bedürfnissen und Wünschen. Dies erfordert Mut und die gegenseitige Akzeptanz von Autonomie.
Sind Paare frisch verliebt, steht die Verbindung zueinander im Vordergrund. Das Paar lernt sich kennen und ist über jede Gemeinsamkeit glücklich. Der Wunsch nach Autonomie ist im Hintergrund und dennoch legen die frisch verliebten Paare am Anfang ihrer Beziehung bereits den Grundstein für Verbindung und Autonomie. Betrachte ich meine eigene Beziehung, dann ist da immer eine gesunde Ausgleichsbewegung spürbar. In unserer Verbindung ist es ein Wechselspiel zwischen wer verbindet und wer löst. Diese Kraft hält eine Beziehung lebendig, denn sie spannt den Bogen zwischen den beiden Polen Nähe und Distanz. Sich zwischen ihnen zu bewegen, gibt beiden die Möglichkeit, sich anzunähern und zu entfernen – die Verbindung miteinander erlebbar zu machen. Der Erlebensraum ist groß, da beide sich entwickeln, sich einbringen und eine Bereicherung für die Beziehung darstellen.
Befinden sich Paare im Alltag, einwickelt sich ein unweigerlicher Gleichklang. Im täglichen Einerlei gehen die gesunden Unterschiede verloren. Die Paarentwicklung verharrt im Stillstand. Der Alltag funktioniert noch gut, aber die Gespräche zwischen dem Paar nehmen ab und echte Nähe findet nicht mehr statt. Erlebt ein Partner einen der Pole von Nähe und Distanz bedrohlich, verändert sich der Bewegungsraum in der Partnerschaft. Das Paar gerät in einen Nähe-Distanz-Konflikt. Es werden selbst Gespräche schwierig, derjenige, der Nähe sucht, will reden, der andere empfindet das schon als zu viel. Dies mündet in einem Teufelskreis und macht alle Beteiligten hilflos. Der eine fühlt sich nicht geliebt, der andere bedrängt. Der Leidensdruck steigt an und einer von beiden reißt aufgrund dieser Konstellation aus.
Um dies zu durchbrechen, kann es helfen, auf die eigene Sicherheit zu verzichten. Sicherheitsgedanken verhindern unbewusst, dass ich das ausspreche, was wirklich wichtig ist. Ich gewähre Einblick und zeige mich dem anderen mit allem was ist, zeige ihm meine Grenze und mache mich dadurch begreifbar. In Zwiegesprächen kann sich ausgetauscht werden, ohne das es zu Schuldzuweisungen kommt, siehe auch Kommunikation in Beziehungen. Wichtig ist, dass ich den Mut aufbringe, meine (Sicherheits-)Mauer fallen zu lassen.
Wenn sich dadurch Paare wieder begreifen und die Bereicherung aus der Polarität von Nähe und Distanz für sich nutzen, kann eine gute Basis geschaffen werden.
Im September 2019 schrieb ich im Blog-Beitrag Eine Grenzerfahrung….dazu:
Berührungen sind immer eine Grenzerfahrung, daher ist es so wichtig, dass wir lernen, achtsam mit uns und dem Gegenüber umzugehen. Grenzen setzen und ein Nein aussprechen, ist immer ein Ja zu sich selbst. Eine Grenze ist keine Distanz. Distanz ist das, was dein Kopf daraus macht.
Wenn ich bereit bin, mein Herz zu öffnen und meine eigenen Grenzen erkenne, kann ich den anderen einladen, mir an dieser Grenze zu begegnen. Ohne Grenze gibt es keine Nähe und ohne Nähe keine Berührung.
Herzensgrüße Stefan